Textatelier
BLOG vom: 01.03.2008

Alterserscheinungen: Standfest im sich ändernden Umfeld

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Ein netter alter Bekannter, Bernhard Tritschler, CH-4058 Basel, beschenkt mich hin und wieder mit Fundstücken aus seiner originellen Sammlung von Geistesblitzen. Gerade dieser Tage ist auf dem Briefpostweg wieder eine Auswahl von lebensphilosophischen Texten eingetroffen. Darunter befand sich auch dieser, der von einem mir unbekannten Autor verfasst worden ist:
 
Alterserscheinung
Alles ist weiter weg als früher und schwerer zu erreichen. Es ist jetzt zweimal so weit bis zur Ecke und zurück, und wie ich bemerkt habe, müssen die auch neue Hügel aufgeschüttet haben. Dem Bus nachzulaufen habe ich aufgegeben, er fährt jetzt schneller als früher.
 
Es scheint mir auch, dass sie die Treppen jetzt steiler machen. Und ist es euch schon aufgefallen, dass sie die Telefonbücher heutzutage kleiner drucken als früher?
 
Es hat auch keinen Sinn jemanden zu bitten, etwas vorzulesen – alle sprechen so leise, dass ich sie kaum hören kann. Und die Kleiderstoffe heute, die schrumpfen so, besonders um die Taille und Hüften. Auch die Menschen verändern sich. Sie sind heute viel jünger als ich es in ihrem Alter war. Auf der anderen Seite sind die Leute meines Alters viel ältlicher und langsamer als ich es bin.
 
Neulich habe ich einen alten Freund getroffen, auch der war so gealtert, der hat mich gar nicht erkannt.
 
Ich habe über den Armen nachgedacht heute Morgen, als ich mir die Haare kämmte. Dabei habe ich in den Spiegel geschaut, und ihr werdet es nicht glauben: Die machen einfach heute nicht mehr so gute Spiegel wie früher!“
 
Soweit der offensichtlich auf einem Erfahrungshintergrund entstandene Text. Mit zunehmendem Alter wird man ihn wohl zunehmend als wahr, als treffend empfinden. Und das Schöne an ihm ist, dass er etwas über unsere Art des Wahrnehmens aussagt. Wir bleiben immer gleich, doch alles um uns herum verändert sich. Dasselbe Prinzip begleitet uns auch beim motorisierten Reisen: Ob wir in der Eisenbahn, im Auto, auf einem Schiff oder im Flugzeug sitzen, wir bleiben immer am Ort, aber die Landschaft zieht an uns vorbei. Würden wir nicht dieser Täuschung erliegen, wir ertrügen wahrscheinlich das hohe Tempo kaum und würden uns vor der dabei entfesselten Wucht ängstigen.
 
Ich habe einmal in einem Autodiagnosezentrum neben einem Auto gestanden, dessen Vorderräder auf Rollen mit einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern drehten. Das wirkte bedrohlich, dieses Tempo, diese Kraft, diese Wucht – ich brachte mich in Sicherheit. Aber wenn ich selber bei 100 am Steuer sitze, beeindruckt mich diese Geschwindigkeit nicht besonders. Wenn eine Kolonne auf der Autobahn mit Tempo 100 fährt, steht die Kolonne aus der Sicht des einzelnen Autofahrers still – nur die Strasse und die Leitplanken usw. flitzen vorbei. Und wenn einer die erwähnte Kolonne mit 120 überholt, dann überholt er mit 20 km/h. So ruhig läuft das. Wir spüren das wahre Tempo erst bei Turbulenzen, bei unsanften Landungen, bei abrupten Bremsmanövern und vor allem Kollisionen.
 
Einer der Vorzüge des Alters ist es, dass wir wegen des aufgehäuften Erfahrungsschatzes viele Erscheinungen besser durchschauen und damit auch besser verstehen. Das weist darauf hin, dass das Alter nicht einfach ein körperlicher Zerfall bedeutet, sondern auch ein Zuwachs an neuen Einsichten. Wem es gelingt, durch ein aktives Leben seinen Wissenshorizont ununterbrochen auszuweiten, wird mehr sehen und mehr erleben, und dieses Erleben wird eine grössere Tiefe haben – denn man sieht ja nur, was man weiss. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass mit zunehmendem Alter die Zeit immer schneller dahinrast. (Wer bremsend darauf einwirken möchte, möge sich vor dem lebenslänglichen Lernen hüten ...)
 
So meinen es der Zeitenlauf und damit die Natur gut mit uns: Was wir an Sinneskräften allmählich einbüssen, gewinnen wir an geistigen Qualitäten, an Lebensqualität überhaupt. Und tatsächlich habe deshalb ich jedes meiner Lebensjahre als schöner als das vorangegangene empfunden, um dieses weitfassende Adjektiv schön in der 1. Steigerungsform zu gebrauchen. Darin ist alles eingeschlossen.
 
Und seitdem die Zugtüren vor der Abfahrt automatisch geschlossen werden, hat es ohnehin keinen Sinn mehr, dem abfahrenden Zug oder Bus nachzulaufen.
 
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